Gerhard Scheit

Siegfrieds Nase

Über die Neuaufstellung des „Siegfriedskopfs“ im Arkadenhof der Wiener Universität

Statement anläßlich einer Podiumsdiskussion mit Bele Marx & Gilles Mussard, Rainer Fuchs, Herbert Posch, Gerhard Scheit, Katharina Wegan; Moderation: Florian Ruttner; 18.10.2006 im Hörsaal 33 der Universität Wien.

Die sich über mehrere Dekaden hinziehende Kontroverse um das Gefallenendenkmal waren Anlass, den „Siegfriedskopf“ durch ein Kunstprojekt in einen neuen Kontext zu stellen. (…) In der Neu-Disposition und der parallel dazu verlaufenden künstlerischen Auseinandersetzung mit dem „Siegfriedskopf“ wurde die Grundstimmung der Zwischenkriegszeit an der Universität Wien und der Diskurs um das Denkmal, vorwiegend in den letzten Dekaden des vorigen Jahrhunderts, nachgezeichnet. Im Zusammenhang mit der architektonischen Neugestaltung wurde entschieden den „Siegfriedskopf“ von seinem ursprünglichen Standort in der Hauptachse der Aula des Gesamtgebäudes der Universität zu entfernen und ihn im westlichen Teil des Arkadenhofes in einer neuen Weise zu positionieren. Die vom Bundesdenkmalamt geforderte Witterungshülle aus Glas unterstützte die Idee, die Hülle gleichzeitig als Träger von Textbeiträgen und Fotografien aus Tageszeitungen von 1923 (dem Jahr, in dem der Siegfriedskopf aufgestellt wurde) bis heute einzusetzen. Aufbauend auf diesen Vorgaben der Architekten begann die künstlerische Intervention. Das Objekt besteht nunmehr aus mehreren Glasebenen und Einheiten. Der äußere Kubus ist Träger eines zeitgeschichtlichen Textes von Minna Lachs, sie beschreibt darin exemplarisch eine Situation antisemitischer Übergriffe in den 20er Jahren. Im inneren Teil des Glaskubus befinden sich weitere Glasflächen mit Texten und Fotografien aus Publikationen. Über eine neben der Skulptur stehende Informationsstation werden ergänzend, am Beispiel von vier Zeitschichten - 1914-1923, 1938-1945, 1965-1968, 1990 bis zur Gegenwart – unterschiedliche Reaktionen sichtbar gemacht, für die das Denkmal stand und steht. Die Texte wurden unter wissenschaftlicher universitärer Beratung von uns ausgewählt und liefern einen Beitrag zu den historischen Hintergründen und den vielschichtigen Vorgängen um das Denkmal. (…) Die ausgewählten Texte wurden gescannt, aufbereitet, auf einem transparenten Film, gleich einem Diapositiv, ausbelichtet und zwischen Glasschichten eingebettet. Naturlicht, Wetterverhältnisse und mögliche gewaltsame Eingriffe von Außen sind wesentlicher Bestandteil der Schriftskulptur. Durch Sonnenlicht wird gleichsam ein Schatten der Schrift auf das Objekt projiziert, der die unterschiedliche Lesbarkeit des Gesamtobjekts hervorruft. Der Lauf der Sonne ist Teil des Konzepts. Er versetzt die Skulptur in einen permanenten Wandel von Licht und Schatten und die Textpassagen in einen abwechselnd aktiven und passiven Zustand. Über die drei Glas-Bügel legt sich - einer Matrize gleich - eine zweite Glasschicht. Die Oberfläche gibt, wie erwähnt, die autobiografische Erinnerung der Zeitzeugin Minna Lachs wieder, wobei Zeile für Zeile wie eine Zikkurat um den Glaskörper läuft, den man umgehen muss, um den Text vollständig lesen zu können. Auch die äußere „Glasschicht“ arbeitet mit Naturlicht, den Wetterverhältnissen und allen möglichen äußeren Umständen und Eingriffen. Im Laufe der Zeit wird die Schrift durch die Verwitterung noch deutlicher und dominanter werden. Je nach Wetterlage ist sie unterschiedlich sichtbar, wobei sich die sandgestrahlte Schrift beispielsweise bei Regen mit Wasser füllt, sodass sie auf der Gesamtoberfläche des Glasobjektes beinahe verschwindet, bei Sonneneinstrahlung hingegen entstehen Schattenbilder bzw. Projektionen, die zusätzliche Ebenen erzeugen. (…) Da die Skulptur sich laufend mit den gegebenen Wetterverhältnissen verändert, ist sie in einem passiven Stillstand, besitzt aber gleichzeitig die Stärke „aktiv“ zu reagieren. Je stärker eine mögliche Einwirkung von außen stattfindet, desto deutlicher tritt die Erzählung der obersten Glasschicht in den Vordergrund und wird umso sichtbarer. (…) Die Neupositionierung war architektonisch notwendig, und es war politisch sinnvoll den Senatsbeschluss aus den 90er Jahren, den Siegfriedskopf zu verlegen, endlich zu realisieren. So wurde aus der Universitätsaula ein Objekt entfernt, das seit Jahrzehnten für Diskurs und Auseinandersetzung sorgte. Ursprünglich als Kriegerdenkmal geplant, wurde der Siegfriedskopf 1923 in der Aula der Universität aufgestellt und bald zur Ikone der deutsch–nationalen Studenten Verbindungen und so zum Symbol für politischen Extremismus, Faschismus und Antisemitismus. Er war kein Symbol für eine freie, offene und moderne Universität. Der Siegfriedskopf wurde von seinem Sockel gestürzt, und mit Schrift ummantelt. Das so entstandene Kunstwerk ist als Metapher zu verstehen und soll daran mahnen, dass Extreme (Diktaturen) als erstes die Schrift und das freie Wort unterbinden (Autodafé). In subtiler Weise „antwortet“ und „verteidigt sich“ unsere Schrift-Skulptur, wenn notwendig, auf mögliche Eingriffe und lässt die Erzählung akkurat und von Mal zu Mal stärker hervortreten. Sie ist zum Zeichen einer so autonomen wie neutralen, nicht aber gleichgültigen Zeit geworden, in der die Geschichte nicht verdrängt und geleugnet wird, die Gegenwart aber als Brücke verstanden werden soll, die in die Zukunft weist.

Pressetext von Bele Marx & Gilles Mussard (Büro Photoglas)
http://www.photoglas.com/upload/bildordnersiegfried/presse.pdf

Der Faschismus, sagt Walter Benjamin, betreibt die Ästhetisierung der Politik. Der Postfaschismus aber, demonstriert Österreich, ästhetisiert auch noch die Erinnerung an ihn. So lagert sich auf dem antimodernen Kitsch der Nazis eine neue Schicht von postmodernem ab, den der Nachfolgestaat des Nationalsozialismus sein eigen nennen kann. Diese Tektonik läßt sich bis ins bauliche Detail an der Neuaufstellung des „Siegfriedskopfs“ im Arkadenhof der Wiener Universität im Jahr 2006 studieren: Archäologie einer postnazistischen Struktur.

Von Gedenkjahr zu Gedenkjahr schreitet die Ästhetisierung der Erinnerung fort. Wo allein das Bilderverbot gemäß wäre, die Erinnerung an die größten politischen Verbrechen der Menschheit zu leiten, damit sie als absolut Sinnloses, annihilation for the sake of annihilation, umso entschiedener ins öffentliche Bewußtsein gerückt werden können, setzen sich Events und Kunsthandwerk fest und produzieren unaufhörlich tiefgründigen Kitsch und feierliche Phrasen, um den Verbrechen selber nachträglich wieder Sinn zu geben, dessen der Nachfolgestaat bedarf. Die sekundäre Volksgemeinschaft begreift sich endlich als ihr eigenes Gesamtkunstwerk, an deren Ausgestaltung sie die verschiedenen Kunstgewerbler und Eventmanager teilhaben läßt. Neu ist diese Gemeinschaft darin, daß sie sich bewußt der NS-Vergangenheit stellt, die man früher, wie es so schön heißt, „verdrängt“ habe, in Wahrheit aber nur verschwiegen hat; daß sie „Zeichen“ setzt, um sich ihrer „so autonomen wie neutralen, nicht aber gleichgültigen Zeit“ zu versichern, „in der die Geschichte nicht verdrängt und geleugnet wird, die Gegenwart aber als Brücke verstanden werden soll, die in die Zukunft weist“. Die sich erneuernde Volksgemeinschaft stellt sich ihrer Vergangenheit, indem etwa Lehrer die Schüler dazu anhalten, Briefe an jüdische Naziopfer zu schreiben, um sie im Rahmen einer Massenveranstaltung per Gasluftballons vom Heldenplatz aus in die Luft steigen zu lassen: „A Letter To The Stars“: „‚Ich hab Dich richtig lieb gewonnen, ich werde Deinen Namen immer mit mir tragen, durch Dich und mit Dir habe ich die Vergangenheit erlebt‘, schreiben die SchülerInnen an die von ihnen ausgewählten Opfer“ - nachzulesen in dem Buch übers Event vom Mai 2003 A Letter To The Stars. Briefe in den Himmel (Wien 2003). Die Opfer haben sich in Sterne verwandelt, die am Firmament der „so autonomen wie neutralen“ Zeit aufglänzen: Lichtjahre entfernt und doch kann man mit ihnen korrespondieren, sogar auf Du und Du, weil nämlich die eigenen Großeltern sie einst umgebracht haben, nachdem sie schon damals ausgewählt worden waren. Wenn das kein erhabenes Gefühl ergibt.

In der Wissenschaft hat man Begriffe wie Diskurs, Kontext und Narrativ erfunden, um die Voraussetzungen solcher Erhabenheit bereitzustellen und auch noch die scheinbar Unversöhnlichen zu integrieren ins falsche Ganze. Jeder bekommt sein Narrativ zugewiesen in der sekundären Kontextgemeinschaft: der deutschnationale Burschenschaftler, der die SS-Großväter ehrt und vor dem Siegfriedskopf Gänsehaut bekommt, und der kritische Zeitgeschichte-Student, der seinen Wehrmachts-Vater zur Rede gestellt und die Geschichte des Siegfriedskopfes aufgearbeitet hat. Ästhetik aber ist gefordert, wo die verschiedenen Narrative aufeinanderstoßen, am Schädel des deutschen Heroen selber: hier soll sich dann das Gefühl der Erhabenheit für alle einstellen, welchem Diskurs im Kontext sie auch sich verschrieben haben mögen. Und siehe da: die verschiedenen Narrative haben doch einen gemeinsamen Nenner – aus ihm ergibt sich, warum der Siegfriedskopf nicht einfach vollständig entsorgt zu werden vermag: Identifikation mit dem Opfer.

Die „umstrittene“ Skulptur des Josef Müllner präsentiert den Kopf des „umstrittenen“ Siegfried, der die Gefallenen des Ersten Weltkriegs verkörpert. Erstochen wurde Siegfried bekanntlich von hinten. Der von Müllner gestaltete, überdimensionale Schädel des toten germanischen Helden ist die steingewordene Dolchstoßlegende, die den Juden die Schuld am Ausgang des Krieges, am Niedergang Deutschlands und am Tod der deutschen Soldaten zuschrieb. Der Text von Minna Lachs – den man jetzt, wenn auch nur bei Schönwetter, auf dem neuen Glassturz lesen kann – macht deutlich, wie die Skulptur politisch funktionierte, welche antisemitischen Aktionen sie anregen konnte. Der Siegfriedskopf ist aber durch die Neuaufstellung zum Kopf der sekundären Volksgemeinschaft geworden, die um Kontinuität und Identität auszubilden, gar nicht anders kann, als sich immer nur als Opfer zu begreifen: Opfer Hitlers, Opfer der Allierten, der Russen, der Amerikaner, der Juden.

In der postnazistischen Demokratie der vielen Diskurse und Narrative, die von der einen Wahrheit nichts mehr wissen will, weil sie an ihre eigene Herkunft rührt, kann sich nun jeder aussuchen, wessen Opfer er ist und mit welchem er sich identifizieren möchte. So ist Siegfrieds neue Position ein Kleinod dieser Demokratie. Dazu mußte der Nazikitsch zunächst den Naziverehrern entrückt werden, sie sollten ihren Alleinvertretungsanspruch darauf verlieren: er wurde von der Aula, wo die deutschnationalen Burschenschaftler ihre Rituale veranstalteten, in den Arkadenhof verlegt, der die Studenten und Professoren zum Kommunizieren anregen soll. Fortan ist er dort aber zu schützen: vor den Einwirkungen des Wetters wie vor den Eingriffen des antifaschistischen Narrativs, das sich schon einmal an ihm vergriffen hatte. Er wurde also „von seinem Sockel gestürzt, und mit Schrift ummantelt“. Diese „Neu-Disposition“ mit Glassturz aus besonderem „Photoglas“ fungiert als eine Käseglocke, beschriftet mit den verschiedenen Diskursen, die postnazistische Aufarbeitung der Vergangenheit mittlerweile zu bieten hat. Darunter ruht er nun, der Kopf des Siegfried, und wartet wohl auf bessere Zeiten. Er kann, darüber läßt dieses kunstgewerbliche Produkt keinen Zweifel, jederzeit wieder zusammengesetzt werden. Inzwischen wechseln Tag und Nacht und je nach Stand der Sonne und Wettersituation werden verschiedene Narrative beleuchtet oder „beinahe“ zum Verschwinden gebracht. Damit erscheint Siegfrieds Kopf wieder lebendig: ein zum Leben erwecktes, permanentes Opfer des Lebens. „Da die Skulptur sich laufend mit den gegebenen Wetterverhältnissen verändert, ist sie in einem passiven Stillstand (…).“ Es handelt sich um die Rückführung der Geschichte, die noch einen Wahrheitsbegriff kennt und mit ihm die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft einschließt, in Naturgeschichte, die nur noch das Immergleiche darstellt, den ewigen Wechsel der Wahrheiten, Aufgang und Untergang.

Sollten die deutschnationale Burschenschaftler jedoch aktiv werden und das naturgegebene Gleichgewicht der Diskurse, das den Leichnam am Leben hält, stören, weil sie Nazikitsch zum Anfassen brauchen, ihren Siegfriedskopf wieder streicheln wollen und nicht mehr durch die Glasscheibe der Demokratie bloß anschauen; hauen sie also ein auf die Käseglocke, um ihren Siegfried zu befreien, dann sorgt die technologische Eigenschaft dieses besonderen Glases dafür, daß sie das Nachsehen haben: „Je stärker eine mögliche Einwirkung von außen stattfindet, desto deutlicher tritt die Erzählung der obersten Glasschicht in den Vordergrund und wird umso sichtbarer.“ So funktioniert die postnazistische Demokratie: Die Erfahrungen der Naziopfer dienen ihr immer nur als Mittel, die Nazis, die sie neu hervorbringt, in Schach zu halten.

Vorschlag zur Ungüte

Ein modernes Kunstwerk vielleicht, zumindest aber ein Artefakt, das sich dieser postmodernen Naturgeschichte des Opfers entgegensetzt, wäre möglich gewesen, wenn die Künstler, von den Dadaisten oder Surrealisten inspiriert, den Siegfriedskopf einfach zertrümmert und zermahlen hätten, um etwa nur die Nase übrigzulassen (wie Bele Marx auf dem Podium andeutete, war ihnen selbst auch einmal diese Idee in den Sinn gekommen): Siegfrieds Nase – so könnte dann die Neuaufstellung des Titels lauten, ex negativo eine Anspielung auf die Darstellung der Nase bei den zahllosen Juden-Karikaturen. Der Siegfriedskopf des Josef Müllner, ein antisemitisches Mahnmal von Anbeginn und Vorstudie zur Hitlerbüste, die der Künstler einige Jahre später verfertigt hat, wäre auf diese Weise nicht nur wirklich zermahlen und beseitigt worden, mit ihm hätte endlich künstlerische Produktion sich annähernd eingelassen wie einstmals Mahlers Scherzi mit Wagners Siegfried: das musikalische Material zerstückelnd, die Stücke verzerrend bis zum apoplektischen Japsen, entlarven jene Mahlerschen Sätze, so Adorno, „die unfreiwillige Komik der Ursymbole“ im Germanenkult, den Wagner mit seinen Gesamtkunstwerken betrieb. Warum dabei der Konfrontation mit Wagner noch eine große Form, ja eigentlich die musikalische Moderne im engeren Sinn, entspringen konnte, während in der Zersetzung der Nazibüste vermutlich nur eine einsame Nase herausgesprungen wäre, versteht sich von selbst: Müllner hat im Unterschied zu Wagner eben einfach nur Kitsch produziert, mörderischen Kitsch.

Siegfrieds Nase könnte man dann aber auch durchaus unter eine Käseglocke legen, dazu müßte allerdings eine Tafel gestellt werden, auf der – unabhängig von der Wettersituation – neben dem Text von Minna Lachs deutlich zu lesen steht, daß es also die Nase eines Ungeheuers, eines von Menschen gemachten Ungeheuers, ist, das Millionen Menschen in eigens dafür eingerichteten Lagern ermordet hat, und wer das zum bloßen Narrativ erkläre, der demonstriere nur, daß der Nationalsozialismus in dieser Gesellschaft demokratisch fortwese.

Aber ich weiß, ich weiß: ein solches Artefakt hätte das Bundesdenkmalamt zu verhindern gewußt, und dieses Amt scheint in Österreich die oberste, die alleroberste Behörde zu sein, noch über dem Verfassungsgerichtshof angesiedelt. Denn der Staat, der sich in der Neuaufstellung des Siegfriedskopfs ein Denkmal gesetzt hat, beruht, das wissen seine Künstler, einerseits auf dem Nationalsozialismus – eines der „Extreme, die Schrift und das freie Wort unterbinden (Autodafé)“; andererseits auf dem Fremdenverkehr – die „Brücke“, die in jene „Zukunft weist“, in der man das freie Wort immer nur zum Diskurs stempelt.