Andreas Peham

Gemeinschaftsbildung und Verfolgungswahn

Zur Besonderheit des österreichischen Syndroms

Eine brauchbare Theorie des Antisemitismus und Rassismus hat nicht deren Objekte zum Gegenstand, sondern deren Subjekte, konkret die national vergesellschafteten WarenbesitzerInnen. Um das Spezifische am österreichischen Syndrom herauszuarbeiten, muß die besondere Form der ideologischen Vergesellschaftung in Österreich analysiert werden. Diese soll unter einigen Aspekten — allen voran sozialpsychologische — thesenhaft diskutiert werden.

1.

Antisemitismus und Rassismus stellen jene Handlungs- und Denkformen dar, die es dem bürgerlichen Subjekt erlauben, das Bedürfnis nach Unterwerfung und Aufruhr gleichzeitig zu befriedigen. Sie sind nicht isoliert zu betrachten, sondern als integraler Bestandteil des autoritären Syndroms. Als dessen weitere Bestandteile gelten: Konformismus, Konventionalismus, Verantwortungsscheu, autoritäre Unterwürfigkeit und Aggression, Ticketdenken, Antiintellektualismus, soziale Erstarrung, Neigung zur Irrationalität, Unfähigkeit mit Aggressionen und inneren Spannungen/verbotenen Wünschen umzugehen (erhöhte Neigung zur Projektion).

Wir können vermuten: Je stärker die Identifikation mit den herrschenden Normen, desto heftiger die ablehnende und haßerfüllte Reaktion aufall diejenigen, welche diesen Normen — tatsächlich oder vorgestellt — nicht entsprechen. Auf gesellschaftliche Ebene gebracht heißt das: Je repressiver (in ideologischer Hinsicht) und uniformierter eine Gesellschaft, je rigider das Normale, desto stärker die autoritären Aggressionen. Im Rassismus richten sich diese gegen das „Unwerte“ oder „Unten“, im Antisemitismus gegen das „Übermächtige“ oder „Oben“.

2.

Auch auf die Gefahr hin, der Apologie des Liberalismus und der ihn tragenden Klasse geziehen zu werden: In Ländern ohne gelungene bürgerliche Revolution und mit ausgeprägter autoritärer Tradition bleibt die Gemeinschaft und die Sehnsucht nach ihr virulenter als anderswo. Voller Neid wird das auch von deutschen Antiliberalen anerkannt: „Für den deutschen liberalen Individualisten, der auf sein Grundrecht pocht, ganz unvorstellbar: Der Österreicher wird in eine kollektive Haftung gegenüber der Gemeinschaft genommen. (...) In Österreich ist die Staatspraxis schon auf Konsens angelegt, absolutes Ausleben der eigenen Ansprüche ist suspekt, spätestens seit dem Bürgerkrieg von 1934. (...) Eine Sache um ihrer selbst willen tun, das ist hier nicht möglich. Das verhindert Extremismus und trägt zur Einheit des Volkes bei.“ [1]

Während die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft durch das individuelle aber gemeinsame Interesse (am Tausch von Waren) verbunden sind, ist die Gemeinschaft notwendig essentialistisch (als Gemeinschaft der von Natur aus Identischen) gefaßt. Soziale Konflikte werden hier weniger als Interessenkonflikte wahrgenommen, sondern als Versuche von „Fremden“, die Gemeinschaft zu zersetzen. Je ausgeprägter die Volksgemeinschaft oder die Sehnsucht nach ihr und je geringer die Bereitschaft, sich mit der sozialen Macht anzulegen, desto größer der Haß auf die Nicht-Identischen. Als Ersatzobjekte ziehen sie sich die soziale Aggression, die sich in Volksgemeinschaften nicht anders artikulieren kann/darf, zu. Während sich der autoritäre Moment dieser Aggression gegen MigrantInnen richtet, zielt der rebellische auf Juden und Jüdinnen oder „Politbonzen“ und „Bürokraten“. Letztere nennt Adorno den „gerade greifbaren Ersatz für das eigentliche Haßobjekt, die Juden“. [2]

3.

Eine weitere Folge der Niederlage des klassischen politischen Liberalismus ist die anhaltende Macht des Etatismus: Die Thesen, wonach „sich in Österreich eine besonders starke staatlich-bürokratische Tradition entfaltet hat“, „Modernisierungen häufig von oben ausgehen“ und „sich die ‚bürgerliche Gesellschaft‘ nie so recht vom Staat freispielen kann“, [3] scheinen mir mehr als plausibel. Angesichts dieser Tradition kann ein deutscher konservativer Staatsfetischist schon mal ins Schwärmen geraten: „Österreich ist in seinem Kern nicht liberal, sondern etatistisch. (...) ‚Freie Entfaltung der Persönlichkeit‘ auf Kosten der öffentlichen Ordnung, Ruhe und Sicherheit existiert hier nicht. (...) Der Staat ist mehr als die Summe der Einzelpersonen. Den absoluten Vorrang der Einzelrechte gegenüber den Gemeinschaftsrechten — wie in Deutschland — gibt es nicht.“ [4]

Die spezifische Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft von oben und die Kontinuität im Etatismus verstärkte die Reproduktion zeit-inadäquater (vorbürgerlicher) Bewußtseinsinhalte. Wahrscheinlich nur hierzulande kann eine Partei wie die FPÖ, die zwar „den Gedanken der Marktwirtschaft“ vertritt, jedoch „ohne sich aber eine Marktgesellschaft zu wünschen“, [5] so erfolgreich sein. Die Marktwirtschaft ist für Jörg Haider, dieser Personifikation des österreichischen Syndroms, eine Ausgabestelle für Sekundärtugenden, während die dazugehörende Gesellschaft „freier“ Individuen den Keim der Zersetzung in sich trägt: „In der Wirtschaft und der Arbeitswelt gilt Ordnung, Disziplin, Leistung (...), während in der kulturellen Sphäre Expressivität, Bindungslosigkeit und Spontaneität dominieren.“ [6]

4.

Wenn es stimmt, dass Antisemitismus und Rassismus maßgeblich mit der Entpolitisierung (i.e. Ethnisierung) des Sozialen erklärt werden kann, ist das wahre Ausmaß des Problems erkennbar. Gerade der „Österreicher“ — verstanden als kritischer Idealtypus und nicht als Realkategorie — ist im engeren Sinne unpolitisch. Dies ist jedoch nicht mit seinem „natürlichen“ Charakter als vielmehr vor dem historischen Hintergrund erklärbar. Die enge Verzahnung des Sozialen mit dem Nationalen hat hierzulande eine lange Tradition und ist von daher nicht so einfach von heute auf morgen aufzulösen. Die Sozialdemokratie, die in Österreich mehr auf den ideologischen Einfluß von Lassalle und Dühring anstatt auf den von Marx und Engels zurückzuführen ist, entstand aus dem Deutschnationalismus. Sie wurde in der Folge zum Transmissionsriemen völkisch-nationaler Interessen im sozialen Gewand und machte alle möglichen Konzessionen an den Nationalismus und Antisemitismus. Diese historische Leistung würdigt Haider, wenn er die Tatsache der „vielfach identische(n) Wählerpotentiale“ von SPÖ und FPÖ damit erklärt, dass „der Sozialdemokrat im klassischen Sinne nie links gewesen ist und daher mit vielen Positionen, für die wir eintreten, übereinstimmt“. [7]

Alles in allem läßt sich sagen, dass es der Sozialdemokratie und den angeschlossenen Gewerkschaften — spätestens nach 1945 — gelungen ist, den Menschen die ohnehin unterentwickelte Fähigkeit, soziale Interessen als solche zu erkennen und danach (kollektiv) zu handeln, auszutreiben. Auch darin baute die postfaschistische Demokratie auf den Ergebnissen nationalsozialistischer Herrschaft: Diese bedeutete einen enormen Schub bei der materiellen wie ideologischen Integration der ArbeiterInnenklasse ins nationale Kollektiv. Als neuer Mittelstand mit kleinbürgerlichem Bewußtsein blieb das Proletariat auch nach 1945 Träger von „standort-inadäquaten Ideologien“ (Theodor Geiger) und wurde als solcher Objekt sozialdemokratischer Verwaltung. Der Kern dieser Ideologien — die entrüstete Leugnung, Klasse zu sein, und der Kampf gegen die Wirklichkeit und Idee des Klassenkampfes — blieb dabei unangetastet. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: In Österreich stimmen heute mehr als 90% dem volksgemeinschaftlichen Stehsatz zu: „Im Ringen um eine gesunde Wirtschaft sitzen Arbeitnehmer und Arbeitgeber im selben Boot.“

Zusammenfassend läßt sich die politische Kultur wie folgt beschreiben: „Österreich (...) weist den höchsten Prozentsatz an politisch Inaktiven und Konformisten, den geringsten an Reformisten, Aktivisten und Protestierenden auf; die österreichische Politische Kultur räumt Widersetzlichkeit, Dissidententum, Anderssein nur einen geringen Raum ein; kurz: von allen untersuchten Ländern zeigt Österreich die deutlichsten Züge einer ‚Untertanenkultur‘“. [8]

5.

Was oben über die Sehnsucht nach harmonisierender Gemeinschaft gesagt wurde, gilt sinngemäß auch für die Sehnsucht nach personaler Herrschaft. Auch darin ist die Volksgemeinschaft der patriarchalen Familie ähnlich, nämlich dass sie durch eine übermächtige Autorität zusammengehalten wird. Der kulturelle Traditionsbestand, welcher den Wunsch nach einem „Führer“ oder „starken Mann“ maßgeblich determiniert, reicht weit hinter den Nationalsozialismus zurück und speist sich neben der bewußten Zustimmung zu den jeweiligen Programmen — aus der gleichen Quelle: der Unfähigkeit zur kritisch-produktiven Abgrenzung gegenüber der (elterlichen) Autorität. Diejenigen, die den Zumutungen der elterlichen Macht hilflos ausgesetzt blieben, tragen den nicht bewältigten Ambivalenzkonflikt dann auf der politischen Bühne aus: Dabei werden die Unlusterfahrungen und die von daher rührenden aggressiven Impulse von der zu liebenden Autorität („Kaiser“ oder „Führer“) abgespalten und auf scheinbare Autoritäten wie „Bonzen“, „Polit-Bürokraten“ oder eben das allmächtige „Judentum“ übertragen. [9]

6.

Eine weitere Folge des Ausbleibens einer bürgerlichen Revolution ist die ungebrochene Macht des antimodernistischen Katholizismus und die fehlende/unvollständige Trennung von Kirche und Staat. So sehen sich die „Österreicher“ nach wie vor als exklusiv-christliche Gemeinschaft, die ihre Identität über Jahrhunderte durch Abgrenzung nach außen (Türken) und innen (Juden und Jüdinnen) bezog. „Jede historische Analyse muß davon ausgehen, daß die österreichische Volkskultur in ihrer Tiefenstrukutur antijüdisch gezeichnet ist.“ [10] Daher weisen heute die ländlichen Regionen, in welchen diese Kultur noch immer hegemonial ist, die höchsten Antisemitismus-Werte auf. Mit Hitler hassen die BewohnerInnen dieser Regionen Wien seit jeher: Das bäuerliche Ressentiment gegen die Großstadt als Synonym für Moderne und Zivilisation steht in wechselseitigem Zusammenhang mit Antisemitismus. Wenn jetzt FPÖ- und ÖVP-PolitikerInnen die Tracht, jene Uniform der AntisemitInnen, [11] zurück auf die politische Bühne bringen, so stellt dies tatsächlich ein (mehr oder weniger bewußtes) politisches Programm dar. Zudem determiniert dieser alltagsreligiöse Antijudaismus aktuelle Formen der sozialen Wahrnehmung von Differenz: Wie die religiöse Urform des Antijudaismus stellt auch der Neo-Rassismus auf kulturelle Unterschiede — v.a. auf unterschiedliche Religion — ab. Gerade das Feindbild Islam korrespondiert in seinen Motiven mit antijüdischen Traditionen.

Der anhaltenden Macht des Katholizismus kommt durch dessen gegenreformatorischen Charakter zusätzliche Bedeutung zu: Unter dem Druck der Gegenreformation wurde massenhaft jene Verhaltensweisen eingeübt, die Österreich bis heute prägen — Konformismus, Anpassung und Heuchelei.

7.

Österreich bzw. die österreichische Familie „ist eine Brutstätte der Neurose“. [12] Der schon angesprochene Haß auf die Eltern darf gerade hierzulande, wo die Familie den Rang einer Staatsreligion hat, [13] nicht ausgedrückt und muß so verdrängt werden. Dieses in der Kindheit eingeübte Verhalten wird später derart konsequent fortgesetzt, dass Österreich „geradezu eine ‚Verdrängungsgesellschaft‘“ [14] genannt werden kann. Die Gemeinschaft der VerdrängerInnen ist angesichts ihrer unbewußten Grundlage besonders gefestigt und in ihren Reaktionen auf „Fremde“ und KritikerInnen (des Verdrängungsvorganges) besonders haßerfüllt. Hier ist die österreichische Disposition zum Antiintellektualismus angedeutet. Wenn es zustimmend heißt, in Österreich sei „der Typus des Berufskritisierers, des großstädtischen Zersetzungsdenkers nicht verbreitet“, [15] so wird instinktiv die Gefahr erkannt, die von intellektueller Kritik ausgeht: sie ist in der Lage, die Grundlagen der Gemeinschaftsbildung bewußt zu machen und somit zersetzend zu wirken.

Der Verdrängungsvorgang ist jedoch nicht total, d.h.ein klein wenig Haß auf die (elterliche) Autorität bleibt bestehen. Dies führt zu massiven Schuldgefühlen, welche wiederum ein unersättliches Strafbedürfnis (s.u.) nach sich ziehen.

8.

Der „Österreicher“ ist das Ergebnis einer kollektiven narzißtischen Kränkung („Der Rest ist Österreich“, 1918), die sich permanent reproduziert. Zunächst suchte der „Österreicher“ seine Heilung im narzißtischen Größenselbst des „Deutschen“, wobei er sein „Deutschtum“ jedoch dauernd unter Beweis stellen mußte. Im eliminatorischen und exterminatorischen Antisemitismus tat er das auch: Der „Österreicher“ — noch dazu wenn er Odilo Globocnik heißt wird je mehr zum „Arier“, je mehr er die Juden und Jüdinnen haßt, verfolgt und ermordet. Hier ist eine Ursache dafür angesprochen, warum der Antisemitismus in der „Ostmark“ um so vieles „radikaler“ war als im „Altreich“.

Doch 1945 wurde auch diesem Heilungsversuch die Grundlage entzogen. Dieses kollektive Trauma — verstärkt durch den Verlust des geliebten „Führers“ — wurde nun verdrängt. [16] An die Stelle der Trauerarbeit traten neue Identifikationen: „Sozialpartnerschaft und österreichisches Nationalgefühl erhalten (...) Züge von zwanghaften Gegenbesetzungen, die an die Stelle von Erfahrungen treten, die unbewußt gemacht werden sollen.“ [17] Es blieb 1945 keine Zeit, Antisemitismus, Rassismus und Autoritarismus öffentlich zu thematisieren, mußte sich doch die vormalige „Volksgemeinschaft“ mit notwendig manischem Eifer dem „Wiederaufbau“ widmen. Nach der Bereicherung an jüdischem Eigentum und der Ausbeutung von ZwangsarbeiterInnen erlaubte auch diese nationale Großtat keine störenden Fragen. Karl Renner, eine weitere Personifikation des österreichischen Syndroms, in seinem Aufruf vom 27. April 1945: „Österreicher! Schließt Euch zusammen zur Wiederaufrichtung Eures freien Gemeinwesens und zum Wiederaufbau Eurer Wirtschaft! Vertagt allen Streit der Weltanschauungen, bis das große Werk gelungen ist!“ Diese Aussetzung der politischen Auseinandersetzung brauchte aber gar nicht verordnet werden, sie ist das logische Resultat der ängstlich-vermeidenden Haltung gegenüber der NS-Vergangenheit: Die Vermeidung blieb nämlich nicht auf den Nationalsozialismus beschränkt, sondern dehnte sich auf andere Bereiche aus. Am Ende wurde „die Berührung politischer Themen überhaupt vermieden, die Übernahme jeglicher politischer Aufgaben und Verantwortung abgelehnt.“ [18] Darin verstärkte die Tabuisierung der NS-Verbrechen den bereits erwähnten un-, ja antipolitischen Charakter des „Österreichers“. Was heute als gefestigtes österreichisches Nationalbewußtsein und sozialer Friede gefeiert wird, ist also vor allem das Resultat eines spezifischen Umganges mit der NS-Vergangenheit, welcher aber auch aus älteren Traditionslinien gespeist wird und diese wiederum überlagert und verstärkt.

9.

„Demokratie (auf österreichisch) bedeutet: Berührungsverbot der Vergangenheit.“ [19] Der österreichische Umgang mit dem Nationalsozialismus kann allgemein als Externalisierung beschrieben werden. Diese „wirkt auch dahingehend, daß dieser historischen Erfahrung nur eine marginale Bedeutung für die Selbstreflexion des politischen und gesellschaftlichen Systems nach 1945 zukam. Die neue politische Ordnung sah es nicht als Aufgabe, politische Werthaltungen zu institutionalisieren, die als klare abgrenzende Antwort auf das NS-System zu verstehen waren.“ [20]

Die Externalisierung des NS erfolgt v.a. in Form des Opfermythos. Tatsächlich stellt das Bekenntnis zur österreichischen Nation auch eine rückwärtsgewandte Identifikation zum Zweck der kollektiven Schuldabwehr dar: Weil bei den Alliierten Österreich als erstes Opfer der NS-Aggression durchging, sah sich seine Bevölkerung ebenso. Diese Selbstwahrnehmung als Opfer fand ihre Deckung bei der politischen Macht, die damit erfolgreich Entschädigungszahlungen an die tatsächlichen Opfer abwehrte.

Daneben war der Austro-Patriotismus als Antithese zum Deutschnationalismus nach 1945 die einigende Klammer unter den postfaschistischen Eliten. Im von diesen verordneten kollektiven Abrücken vom deutschnationalen Ticket, auf dessen Bestandteil der nicht eigenständig thematisierte Antisemitismus reduziert wurde, erschöpfte sich weitgehend die ideologische Entnazifizierung. Trotzdem wollten viele im Wachsen des österreichischen Nationalbewußtseins antifaschistische Haltungen massenwirksam werden sehen. Da die FPÖ bis 1997 am Bekenntnis zur „deutschen Volksgemeinschaft“ festhielt, schien diese Annahme auch Berechtigung zu haben. In Wahrheit konnten gerade im transformierten Nationalismus antisemitische Einstellungen ungehindert fortleben.

Auch das „Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie“ [21] wurde durch den Opfermythos erleichtert, garantierte er doch das Desinteresse der Alliierten und der internationalen Öffentlichkeit. Mit dem Staatsvertrag und dem Abzug der Alliierten war Österreich im Bewußtsein der Bevölkerung „frei“, auch und gerade vom Zwang, sich mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen zu müssen. Weitgehend „frei“ war der „Österreicher“ auch von „Umerziehung“ und der zivilisatorischen Kraft des Auslandes, was Maier-Bergfeld neidvoll anerkennt: „Österreich hat — durch seine Opferlegende — bis 1988 (...) vermeiden können, zum Dauerobjekt einer politisch instrumentalisierten Vergangenheitsbewältigung gemacht zu werden (...). Daher hat auch die weltweite Kulturrevolution von 1968 in Österreich keine nennenswerten Flurschäden angerichtet.“ [22]

10.

Der Opfermythos ist daneben eine Form der Abwehraggression. Die österreichische Nation als Opfergemeinschaft basiert auf kollektiver Verleugnung, Verdrängung und Absperrung. Diesen Reaktionsweisen folgt grundsätzlich immer die eingeschränkte Wahrnehmung der Realität, die Scheu vor Konflikten und Erstarrung des sozialen Lebens, der Hang zur Stereotypenbildung sowie die soziale Paranoia, die regelmäßig in Haß auf alles Nicht-Identische umschlägt: „Die Abwehr kollektiv zu verantwortender Schuld (...) hat ihre Spuren im Charakter hinterlassen. Wo psychische Abwehrmechanismen wie etwa Verleugnung und Verdrängung bei der Lösung von Konflikten (...) eine übergroße Rolle spielen, ist regelmäßig zu beobachten, wie sich die Realitätswahrnehmung einschränkt und stereotype Vorurteile sich ausbilden; in zirkulärer Verstärkung schützen dann die Vorurteile wiederum den ungestörten Ablauf des Verdrängungs- oder Verleugnungsvorganges.“ [23] Dieser Vorgang verstärkt die grundsätzlich dem autoritären Charakter zugeschriebene Unfähigkeit, authentische Erfahrungen zu machen.

11.

Wie jede kriminelle Organisation wird auch die „sekundäre Volksgemeinschaft“ (Gerhard Scheit) durch das Verbrechen und das Schweigen darüber zusammengeschweißt. Diejenigen, die entweder lästige Fragen stellen oder schon allein durch ihre Existenz an Auschwitz erinnern, werden (wieder als die Gemeinschaft zersetzende „Fremde“) zu Objekten des Hasses und der Verfolgung („sekundärer Antisemitismus“).

12.

Im Gefolge der Diskussion um die NS-Vergangenheit des ÖVP-Präsidentschaftskandidaten Waldheim und dem Drang der politischen Eliten in die EU geriet der Opfermythos gegen Ende der 80er Jahre in die Krise. Nun war der „Österreicher“ verstärkt angehalten, Verdrängungsleistungen zu erbringen. Die Krise des Opfermythos bedeutete für den „Österreicher“ eine neuerliche narzißtische Kränkung, zu deren Heilung Haider erfolgreich angetreten ist. Dieser Erfolg Haiders als „magischer Helfer“ (Erich Fromm) rührt daher, dass auch er „im allgemeinen ein meisterlicher Verkäufer seiner eigenen psychischen Defekte (ist).“ [24] Wie jeder erfolgreicher Führer muß auch Haider „selbst als absolut narzißtisch erscheinen (...), um die narzißtische Identifizierung zu ermöglichen“. [25] Die persönlichen Verletzungen, die Haider als Kind aus nationalsozialistischem Elternhaus erfuhr, bilden seinen zentralen Antrieb: Haiders Agitation und deren Erfolg verschaffen ihm jene „großartige(n) narzißtische(n) Zufuhr, die das narzißtisch gekränkte Kind des nach 1945 lange Jahre (wahl-)rechtslosen Vaters psychisch dringend braucht. “ [26]

Haider führt bei seiner Heilung aber öffentlich weniger die Verdrängungsleistung vor, als jene der Verneinung. „Ein verdrängter Vorstellungs- und Gedankeninhalt kann also zum Bewußtsein durchdringen, unter der Bedingung, daß er sich verneinen läßt. Die Verneinung ist eine Art, das Verdrängte zur Kenntnis zu nehmen (...), aber freilich keine Annahme des Verdrängten. (...) Vermittels des Verneinungssymbols macht sich das Denken von den Einschränkungen der Verdrängung frei und bereichert sich um Inhalte, deren es für seine Leistung nicht entbehren kann.“ [27] Besser kann Haiders stellvertretender Umgang mit dem Nationalsozialismus nicht beschrieben werden.

Mit dem Wechsel der FPÖ vom Bekenntnis zur „deutschen Volks- und Kulturgemeinschaft“ zu „aggressivem Österreich-Patriotismus“ (1996) begann diese jedoch ihr Angebot zu diversifzieren: Nun rückte die direkte Verneinung (etwa in Form der Verharmlosung von NS-Verbrechen oder Lobpreisungen nationalsozialistischer Praxen wie die „Beschäftigungspolitik“) etwas in den Hintergrund. Statt dessen versucht nun die FPÖ, den Opfermythos zu reaktivieren.

13.

Der „Österreicher“ leidet unter Wiederholungszwang: Eine politische Kultur, die auf Verdrängung und Absperrung basiert, produziert den Zwang zur Wiederholung dessen, was nicht verarbeitet und bewältigt wurde. Weil Haider diese Wiederholung auf der politischen Bühne inszeniert, ist er so erfolgreich: Er „gibt den Menschen das Gefühl, daß man mit der alten Mentalität auch öffentlich wieder ungeniert herausrücken darf.“ [28] Von daher rührt das befreiende Gefühl, das sich beim Haider-Anhang einstellt und das diesen wiederum enger an den Agitator bindet.

14.

So klein wie das Land machen sich seine Leute. Die „kleinen Leute“ sind jene Subalternen, die es sich — unter tatkräftiger Mithilfe der österreichischen FunktionärInnen der Arbeit (s.o.) — in ihrem Status eingerichtet haben. Diese Selbstinfantilisierung, welche eine konformistische Verarbeitung der eigenen Ohnmacht darstellt, erlaubt einerseits das Abschieben von Verantwortung und die Selbstdarstellung als Opfer, andererseits führt sie zu paranoiden Reaktionsformen. Je kleiner sich jemand macht, desto größer, mächtiger und feindlicher kommen ihm die Anderen vor. Die protoypischen Anderen — die Juden und Jüdinnen — stellen aufgrund der ihnen im antisemitischen Diskurs zugeschriebenen Machtfülle die ideale Projektionsfläche der permanent Zukurzgekommenen dar.

15.

Die massenhafte Selbstwahrnehmung und -darstellung als „klein“ hat darüber hinaus eine masochistische Komponente, perpetuiert sie doch die Ohnmachtsgefühle. Dass sich Masochismus (autoritäre Unterwürfigkeit) mit Sadismus (autoritäre Aggression) paart, zeigen auch die kollektiven Bestrafungs- und Rachephantasien, die sich gegenwärtig an „Kinderschändern“, „Organisierter Kriminalität“ oder „nigerianischer Drogenmafia“ austoben. Der Ursprung dieser Phantasien in der anal-sadistischen Regression ist nicht zu übersehen und korrespondiert von daher nicht zufällig mit der oben erwähnten Selbstinfantilisierung. Neben diesen Phantasien beziehen die „kleinen Leute“ ihren psychischen Gewinn aus der libidinösen Nähe zu „großen Männern“ und der Mitgliedschaft im nationalen Kollektiv.

[1Maier-Bergfeld, Peter: Deutschland und Österreich. Über das Hissen der schwarz-rot-goldenen Flagge in Wien, in: Schwilk, Heimo; Schacht, Ulrich (Hg.): Die selbstbewußte Nation. „Anschwellender Bockgesang“ und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte. Frankfurt/M., Berlin 1995 (3., erw. Aufl.), S. 205 An anderer Stelle heißt es: „Österreich ähnelt heute dem, was Ludwig Erhard die ‚Formierte Gesellschaft‘ genannt hat. (...) Universalismus zählt in Österreich wenig. Das ist bei einem Alpenvolk, das viel länger als Preußen vorindustriell geprägt war, verständlich.“ (ebd., S. 221)

[2Adorno, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt a.M. 1995, S. 124

[3Hanisch, Ernst: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 1994, S. 15

[4Maier-Bergfeld a.a.O., S. 202f

[5Jörg Haider, in Junge Freiheit, 5.5.2000

[6ders.: Die Freiheit, die ich meine. Frankfurt a.M., Berlin 1993, S. 239

[7ders., in Junge Freiheit, 5.5.2000

[8Hanisch a.a.O., S.23f

[9vgl. Simmel, Ernst: Antisemitismus und Massen-Psychopathologie, in: ders. (Hg.): Antisemitismus. Frankfurt a.M. 1993, S. 73

[10Hanisch a.a.O., S. 31

[11Kurz nach dem „Anschluß“ wurde es Juden und Jüdinnen auch per Verordnung untersagt, Tracht zu tragen.

[12Ringel, Erwin: Eine neue Rede über Österreich, in: ders.: Die österreichische Seele. 10 Vorträge zu Medizin, Politik, Kunst und Religion. Wien u.a., 1984, S.9

[13Maier-Bergfeld: „Noch immer erzieht die — viel festere — Familie zur Einordnung, die Singleisierung ist noch nicht so weit wie in Deutschland fortgeschritten.“ (a.a.O., S. 206)

[14Ringel a.a.O., S. 13

[15Maier-Bergfeld a.a.O., S. 224

[16Streng genommen kann beim österreichischen Umgang mit den NS-Verbrechen und der eigenen oder familiären Verstrickung in diese bis in die 80er Jahre kaum von Verdrängung im psychoanalytischen Sinne gesprochen werden. Denn die weiter unten behandelte Schuldabwehr in Form des Opfermythos ermöglichte es dem „Österreicher“, nicht als sich zu verantwortender (oder eben verdrängender) Täter zu erscheinen. Statt zur Verdrängung kam es vielmehr zur Absperrung, d.h. dass über den Nationalsozialismus und dessen Verbrechen zwar gewußt wird, dieses Wissen aber vom Handeln und Fühlen abgetrennt bleibt. (vgl. Ziegler, Meinrad; Kannonier-Finster: Österreichisches Gedächtnis. Über Erinnern und Vergessen der NS-Vergangenheit. Wien u.a., 1993, S. 76ff) Grundsätzlich eignet sich der Begriff der Verdrängung nur eingeschränkt, um den kollektiven Umgang mit den NS-Verbrechen in den TäterInnenländern zu analysieren, meint er doch in seiner eigentlichen Bedeutung eine unbewußte Reaktionsweise. Demgegenüber betonte Adorno, daß die „Tilgung der Erinnerung“ an Auschwitz „eher eine Leistung des allzu wachen Bewußtseins als dessen Schwäche gegenüber der Übermacht unbewußter Prozesse“ darstellt. (Adorno, Theodor W.: Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit, in: ders.: „Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse“. Ein philosophisches Lesebuch (hg. von Rolf Tiedemann). Frankfurt/M. 1997, S.34)

[17Ziegler a.a.O., S. 33

[18Fürstenau, Peter: Zur Psychologie der Nachwirkung des Nationalsozialismus, in: Huss, H.; Schröder, A. (Hg.): Antisemitismus. Zur Pathologie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1965, S. 128

[19Haslinger, Josef: Politik der Gefühle. Ein Essay über Österreich. Darmstadt, Neuwied 1987, S. 29

[20Ziegler a.a.O., S. 35

[21Adorno, Theodor W.: Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit a.a.O., S. 31. Adorno bezeichnet dieses dort „als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie.“ (ebd.)

[22Maier-Bergfeld a.a.O., S. 214f. An anderer Stelle: „Österreich als unterkapitalisiertes Land ist wirtschaftlich noch nicht an den Weltmarkt angeschlossen (...), ist zum Teil noch autark, ist politisch paternalistisch-vormodern organisiert (...), mehr gemeinschaftlich als individuell, mehr etatistisch als als gesellschaftlich (...), eher ständisch als liberal, eher repressiv als permissiv, eher stabil als mobil, eher auf der Seite des Leviathan als auf der des Behemoth verortet. Mit einem Wort: Der Österreicher ist duldsam als Mensch, lebt aber nicht in einer liberalistischen Ordnung. Warum ist das so? Das ist einfach zu beantworten: Es gab in Österreich keine Umerziehung (...), weil es keine Kollektivschuldzumutung gab, weil es die Legende gab, man sei das erste Opfer Hitlers gewesen. (...) Das hat es in Österreich möglich gemacht, der Vernichtung der Staatstugenden zu entgehen, die psychische und tatsächliche Desarmierung zu vermeiden. Der österreichische Grantler ist kein Nationalmasochist. Österreich hat die ganz normale Erkenntnis noch nicht verdrängt und eben auch nicht verdrängt bekommen: Zieht man vom Rechtsstaat das Recht ab, so bleibt doch der Staat, das weltliche Regiment zur hoheitlichen Ordnung der gemeinschaftlichen Aufgaben eines (Teil-) Volkes, das der Integration und Identität bedarf. (...) Das ganze Geheimnis deutscher Politik ist ja der Köhlerglaube, man müsse nur alles um 180 Grad anders als Hitler machen, dann sei es schon gut und richtig. Da die Österreicher mit Glück und List — diesen ‚Hitler-Komplex‘ (...) vermieden haben, haben sie sich Staat und Gemeinschaft mit ihren Vätern und Selbstachtung und Hausverstand gerettet.“ (ebd., S. 211)

[23Mitscherlich, Alexander und Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. Frankfurt a.M. u.a. 1970, S. 24

[24Adorno, Theodor W.: Antisemitismus und faschistische Propaganda, in: Simmel a.a.O., S. 153

[25ders.: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda, in: ders.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1971, S. 49. Allgemein kann der faschistische Führer oder Agitator „die seelischen Bedürfnisse und Wünsche der für seine Propaganda Anfälligen erraten, weil er ihnen seelisch ähnlich ist, und was ihn von ihnen unterscheidet, ist nicht irgendeine echte Überlegenheit, sondern die Fähigkeit, das was in ihnen latent ist, ohne Hemmungen auszudrücken.“ (ebd., S. 58)

[26Maier-Bergfeld, Peter: Gegen Erziehungsdiktatur und Gesinnungspolizei. Die Freiheitlichen als Freiheitsgarant in Österreich, Deutschland und Europa, in: Höbelt, Lothar (Hg.): Republik im Wandel. Die große Koalition und der Aufstieg der Haider-FPÖ. München 2001, S. 272

[27Freud, Sigmund: Die Verneinung, in: ders.: Studienausgabe Bd. 3. Frankfurt a.M. 1982, S. 373f

[28Haslinger a.a.O., S. 79