Stephan Grigat

Französische Avantgardisten und der Zionismus

Die Situationisten über Israel

Erinnert man heute an die 68er-Bewegung, kommt die Sprache schnell auf die Ereignisse des Pariser Mai, in dem die französischen Studenten und Arbeiter das Land an den Rand einer revolutionären Situation brachten. Wenig bekannt ist hingegen, wer die geistigen Wegbereiter dieser Ereignisse waren. An zentraler Stelle sind hier Guy Debord und die Situationistische Internationale (SI) zu nennen. Debord war Vordenker dieser Intellektuellengruppe, über die in den letzten zehn Jahren auch einige Bücher auf Deutsch erschienen sind. In der Regel beschränkt man sich auf ein Abfeiern Debords als autonomen Intellektuellen und würdigt die sowohl kunst- als auch politavantgardistischen Leistungen der SI. Ihre Einschätzungen zu Israel werden hingegen kaum zur Kenntnis genommen.

Der Zionismus und Israel waren weder für die SI noch für Debord ein zentrales Thema. Dennoch gibt es einige Äußerungen dazu. Die Unterschiedlichkeit dieser Äußerungen weist gewisse Parallelen zur Entwicklung der deutschsprachigen Linken auf, die sich von einer prozionistischen Nachkriegslinken hin zu einem antizionistischen Hetzkollektiv in den 1970er Jahren transformierte. Die anfänglichen Äußerungen der SI zu Israel zeugen keineswegs von einer hasserfüllten Ablehnung des zionistischen Staatsgründungsprojekts, sondern setzen sich zum einen durchaus wohlwollend mit der Kibbutz-Bewegung auseinander und versuchten zum anderen eine linkskommunistische Kritik am damals in Israel bestimmenden sozialdemokratischen und linkssozialistischen Arbeiterzionismus zu formulieren. Hier ist keineswegs von einem antisemitisch konnotierten Antizionismus zu sprechen, sondern es handelt sich sowohl um eine universalistische als auch eine innerisraelische Kritik, da einige dieser frühen Ausführungen von einem israelischen Mitglied der SI stammen: Jacques Ovadia, der Israel 1960 als „country in the making“ charakterisierte. Spätestens während des Sechs-Tage-Kriegs fand jedoch auch die SI, zu der Ovadia auf Grund seines Austritts 1961 nicht mehr gehörte, zu jenem unreflektierten Antizionismus, wie er seit dem für große Teile der Linken charakteristisch ist.

Die Schrift, in der das am deutlichsten wird, unterscheidet sich aber dennoch grundlegend vom ordinären Antiimperialismus der vermeintlich radikalen wie der reformistischen Linken und insbesondere auch von Dieter Kunzelmanns Nationalsituationismus mit seinem offen artikulierten Antisemitismus. In „Zwei lokale Kriege“, einem Text der im Oktober 1967 in der 11. Nummer des Organs der SI erschien und vermutlich von dem aus Tunesien stammenden Mustapha Khayati verfasst wurde, werden der Vietnamkrieg und der Sechs-Tage-Krieg untersucht. Auch in diesem Text ist linkskommunistische Kritik am sozialdemokratischen und linkssozialistischen Arbeiterzionismus mit seinen realsozialistischen Erscheinungsformen wie etwa der Einheitsgewerkschaft Histadrut zentrales Anliegen. Er beginnt mit einer Kritik am antiimperialistischen Bedürfnis, das über jede Regung im Trikont entzückt ist, und sich für jede Form bewaffneter Auflehnung begeistert, so die Antiimperialisten in Europa sie nur nicht selbst betreiben müssen. Khayati macht sich über das manichäische Denken des europäischen Antiimperialismus lustig, liefert eine knappe Kritik der leider bis heute hoch im Kurs stehenden Lenin’schen Imperialismusvorstellung und formuliert seine Kritik an der US-Außenpolitik nicht, wie man das gegenwärtig kennt, aus einem antiamerikanischen Ressentiment heraus.

Auch die Äußerungen in Bezug auf Israel unterscheiden sich deutlich von jenen offen antisemitischen Pamphleten, wie sie kurz darauf in der deutschsprachigen Linken Mode werden sollten. Dennoch: Man merkt schon an der Sprache, dass es hier nicht mehr um eine wohlwollende Kritik an Fehlentwicklungen in einer Gesellschaft geht. So ist in „Zwei lokale Kriege“ beispielsweise nicht von notwendigen Maßnahmen der Israelis zum Zwecke des Selbstschutzes die Rede, sondern von der israelischen „imperialistischen Expansion“. Aus der Diskriminierung der arabischen Israelis wird flugs eine „rassistische Verfolgung“ und die Proklamation des jüdischen Staates, die immerhin nach einem UNO-Beschluss und in Übereinkunft mit der institutionalisierten Weltgemeinschaft erfolgte, wird zum „willkürlichen“ Akt umgelogen.

Die SI spricht dem Zionismus jedes revolutionäre Potential ab. Der bürgerlich-revolutionäre Charakter Israels, der gerade in seinem zionistischen Charakter begründet liegt, wird bei ihnen ebenso wenig thematisiert wie die zwar ungewollte, aber doch offensichtliche Nähe des Zionismus zu Walter Benjamins Vorstellungen einer negativen Geschichtsphilosophie und der Revolution als Akt einer „rächenden Klasse“. Diese Ignoranz ist nur möglich durch die völlige Ausblendung der Shoah. Der Vernichtungsantisemitismus verschwindet bei der SI hinter allgemein reaktionären Entwicklungen, wenn sie schreiben: „Gewiß hat ihm (dem Zionismus, S.G.) die konterrevolutionäre Entwicklung im letzten halben Jahrhundert recht gegeben, aber auf dieselbe Art wie die Entwicklung des europäischen Kapitalismus Bernsteins reformistischen Thesen recht gab.“

Wenn man unter einer revolutionären Lösung die Etablierung der staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft versteht, hat die SI im gewissen Sinne recht, wenn sie schreibt, dass die zionistische Bewegung von Anfang an „das Gegenteil einer revolutionären Lösung dessen (war), was man die Judenfrage nannte“. Nur stand genau solch eine revolutionäre Lösung 1945 nicht auf der Tagesordnung, schon gar nicht im arabischen Raum, in dem sich die klerikalfaschistischen, monarchistischen und pan-arabistisch sozialistischen Regimes und Gruppierungen vielmehr anschickten, den nationalsozialistischen Antisemitismus samt seines Vernichtungsprojektes unter veränderten Bedingungen fortzuführen.

Zu welchen fatalen Konsequenzen die Ignoranz gegenüber der antisemitischen Ideologie führt, wird deutlich, wenn man jene Passagen aus „Zwei lokale Kriege“ liest, die sich mit der Situation im palästinensischen Mandatsgebiet vor der israelischen Staatsgründung befassen. Die pogromartigen Ausschreitungen der arabischen gegen die jüdische Bevölkerung in den 1930er Jahren fungiert bei ihnen als „bewaffneter Aufstand“, der glücklicherweise gegen das anfängliche Zögern der arabisch-nationalistischen Führer angezettelt worden sei. Das Scheitern dieses zugleich antikolonialen wie antisemitischen Aufstandes, der, wäre er erfolgreich gewesen, vermutlich die Vernichtung der europäischen Juden um die Ermordung jener im Nahen Osten ergänzt hätte, und der zudem eine frühere Gründung eines jüdischen Staates in Palästina, als dieser noch Millionen von Menschen das Leben hätte retten können, maßgeblich behindert hat, das Scheitern dieses Aufstandes also bezeichnet die SI als „Katastrophe“. So ist es auch kein Wunder, dass sich die SI 1967, knapp sechs Jahre vor einer Situation in der die Israelis eine abermalige Massenvernichtung im Jom Kipur-Krieg nur noch durch massive US-amerikanische Militärhilfe abwenden können, dafür ausspricht, den israelischen Staat von einer „revolutionären arabischen Bewegung auflösen“ zu lassen, also wohlgemerkt nicht von einer jüdisch-revolutionären oder wenigstens einer jüdisch-arabisch revolutionären. (Gerhard Hahnloser unterschlägt all dies bei seiner Diskussion von „Zwei lokale Kriege“ und attestiert der SI im „Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte“ die genaue und schonungslose Kritik des despotischen, antiemanzipativen Charakters der propagierten „arabischen Einheit“’ sowie eine „geschichtsbewußte Kritik des Zionismus.“)

In diesen Punkten kann heutige Gesellschaftskritik von Debord und der SI nichts lernen, an nichts anknüpfen; da gibt es nichts zu retten. Der Antisemitismus tritt als eine allumfassende Welterklärung auf. Er ist die denkbar barbarischste Reaktionsweise auf den Zwang zu Kapitalproduktivität und Staatsloyalität und zugleich die weitestgehende Einverständniserklärung mit diesem Zwang. Der Antisemitismus, auch in seiner geopolitischen Reproduktion als Antizionismus, ist der Todfeind der Emanzipation. Ob eine Beschäftigung mit der situationistischen Kritik zu seiner Bekämpfung wird beitragen können, ist ausgesprochen fraglich. Vor allem deswegen, – und das markiert einen deutlichen Unterschied zur Kritischen Theorie von Autoren wie Adorno und Horkheimer – da bei den Situationisten jene Fragen, die in heutigen Auseinandersetzungen zentral sind, wie das Verhältnis von Zivilisation und Barbarei, die Bedeutung des Nationalsozialismus für die Kritik der postnazistischen Welt, die Rolle des arabischen und islamischen Antisemitismus, gar keine Rolle gespielt haben.

In „Zwei lokale Kriege“ schreibt die SI im Hinblick auf den arabisch-israelischen Konflikt: „Wie immer kann der Krieg – wenn er kein Bürgerkrieg ist – den Prozeß der sozialen Revolution nur einfrieren“. Mit der Rede vom „Einfrieren der Revolution“ hat die SI natürlich Recht, und sie unterscheidet sich auch in diesem Punkt wohltuend vom aktuellen geschichtsrevisionistischen Pazifismus mit seiner abstrakten Kriegsgegnerschaft. Die Frage, die sich hier aber aufdrängt ist doch: war nicht die alliierte Gewalt gegen Deutschland nicht nur Bedingung für das Beenden des Mordens, sondern auch für die Herstellung von Zuständen, in denen die Emanzipation zumindest wieder als denkmöglich erscheint, Geschichte also nicht zum Stillstand gekommen ist? Daran anschließend stellt sich die Frage, ob die Konstellation, dass nur noch eine militärische Intervention von außen dem perspektivlosen Morden Einhalt gebieten kann, und die Grundbedingungen sozialer Emanzipation – sei es intendiert oder contre cœr – wieder herstellen kann, keine einmalige Angelegenheit in der Weltgeschichte war. Man denke nur an den Einmarsch vietnamesischer Truppen in Pol Pots Kambodscha oder den Sturz Idi Amins durch Truppen des dissoziationssozialistischen Tansania. Diese Ereignisse konnte die SI bei der Niederschrift von „Zwei lokale Kriege“ selbstverständlich noch nicht kennen. Für die aktuellen Debatten sollte man sie aber im Auge behalten, insbesondere im Hinblick auf die Notwendigkeit des militärischen Sturzes der trikontinental-faschistischen Baath-Diktatur im Irak und einer möglichen zukünftigen Intervention im klerikalfaschistischen Iran, bei der in erster Linie zu fordern wäre, dass Israel nicht alleine die Lasten solch einer zur Verhinderung der Aufstockung des iranischen Vernichtungspotentials mit Nuklearwaffen eventuell notwendigen Intervention zu tragen hat.

zuerst erschienen in David, Nr. 71, 2006


Ein ausführlicher Artikel mit den entsprechenden Literaturverweisen zum Thema findet sich in dem Band:

Stephan Grigat/ Günther Friesinger/ Johannes Grenzfurthner (Hg.): Spektakel–Kunst–Gesellschaft. Guy Debord und die Situationistische Internationale. Verbrecher-Verlag, Berlin 2006, 250 Seiten, 14,– Euro